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Interview von Dominique Caillat mit Timothy Rearden
(in Israel & Palästina, Zeitschrift für Dialog, 2004)

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Dominique Caillat, um Kidnapping zu recherchieren bereisten Sie monatelang Israel und die palästinensischen Gebiete: Was war ihr Haupteindruck?

Dass diese Geschichte unzählige Schichten hat. In so einer emotional geladenen Lage fängt man fast automatisch an, in Stereotypen zu denken, denn nur so schafft man es, eine klare Ordnung oder Struktur zu sehen. Aber gerade das ist die Falle: Die Clichés (der Attentäter, der Besatzer, das Opfer, die Korruption, das Militär, die Demokratie, die Mauer, etc.) verschleiern die Wahrheit und verewigen den Streit: Solange man glaubt, dass eine Seite recht hat und die andere nicht, wird man versuchen, dieses Recht mit allen Mitteln, besonders Gewaltmitteln, durchzusetzen.

Hat also niemand recht?

Im Gegenteil: Beide haben recht! Und natürlich auch manchmal unrecht… Beide haben tiefe Wunden, Ängste, die schwere Traumata verursachen.

Wie haben Sie das in Kidnapping verarbeitet?

Ich habe einfach das geschrieben, was ich erlebt habe: Im Gegenteil zu den meisten Ausländern, die sich in der Region aufhalten, bin ich ständig von einer Seite zur anderen übergewechselt. Es war etwas anstrengend, denn auch ich möchte lieber eine klare Meinung haben, z. B. „Die Besatzung ist grausam!“ und nicht weiterdenken. In der Tat, die Besatzung ist grausam. Das fühlt man ganz stark, sobald man einige Stunden an einem Checkpoint gestanden hat. Aber am nächsten Tag fahre ich nach Jerusalem und erreiche das Zentrum knapp eine Stunde nach einem Selbstmordanschlag, der in einer Hauptverkehrsstraße verübt worden ist, einer Straße, die ich ständig benutze. 12 Tote und unzählige Verletzte, darunter mehrere Kinder. Am selben Tag treffe ich einen angeblich pazifistischen Palästinenser, in Deutschland ausgebildet, der sich als radikaler Holocaustleugner entpuppt, der Israels Existenzrecht leugnet, über die „jüdische Weltverschwörung“ schimpft, usw. Da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Der nächste Termin ist mit fanatischen Siedlern, die einem wahnsinnigen Gott folgen und von dem Mörder Baruch Goldstein (der 1994, in Hebron, 29 Muslime beim Gebet niedermetzelte) schwärmen: „Ein wunderbarer Mann, ein Arzt, der das Leben schätzte, viele Leben rettete, Sie hätten ihn auch geliebt“. Ich schaudere nur. Danach ein Brunch mit einem älteren israelischen Paar – beide intensiv im Zivilwiderstand gegen die Besatzungspolitik engagiert, beide kultiviert, weise und wunderbar, und doch erzählt mir der Ehemann, dass er einst Mitglied der Irgun war, der faschistischen Terrorgruppe, die 1946 für den Anschlag auf das King David Hotel (91 Tote) verantwortlich ist… Nichts stimmt: das Bild verzerrt sich ständig, wie in einem kaputten Spiegel. 

Es hört sich ziemlich kompliziert an…

Es ist kompliziert. Um Ihre vorige Frage zu beantworten, habe ich in „Kidnapping“ jeder Geschichte aus einem Lager, eine Geschichte des anderen Lagers gegenüber gestellt. Die Wahrheit entsteht aus der Zusammensetzung aller Erzählungen.

Das ergibt doch keinen Frieden!

Nein, den Frieden muss man erfinden und wagen. Wie der Frieden aussehen könnte, weiß inzwischen jeder – dafür gab es in den letzten Jahrzehnten genug Verhandlungen. Was fehlt ist der Mut, der Wille dazu. Das muss aus den jeweiligen Bevölkerungen kommen. Wenn es soweit ist, werden sie aufhören, Krieger an die Regierungsspitze zu wählen.

Die Vergangenheit spielt in Kidnapping eine große Rolle. Wäre es nicht besser gewesen, sich auf das hier und heute zu konzentrieren?

Hören Sie: Wenn Sie in Israel oder Palästina aktiv an einem Gespräch teilnehmen wollen, müssen sie über die Vergangenheit Bescheid wissen, denn sie ist die Hauptreferenz. Vor allem die Kriege prägen die Mentalitäten und zwar mit gegensätzlichen Wahrnehmungen: Besonders 1948 (Unabhängigkeit vs. Naqba/Katastrophe), 1967 (Rückkehr zum Land der Vorfahren vs. Besatzung), 1973 (Desaster knapp vermieden vs. die Niederlage als Sieg empfunden), ab 1982 der traumatische Libanon Krieg, 1991 der Golfkrieg (Tel Aviv von Raketen getroffen vs. Palästinenser für Saddam Hussein). Ohne diese Ereignisse und natürlich auch die politische Geschichte, die bedeutenden Machtaber und Generäle usw. zu kennen, werden Sie dort nicht weit kommen. In Palästina geben die Abkömmlinge der Flüchtlinge von 1948 immer noch irgendwelches Dorf als Heimatort an, das seit über 50 Jahren von der Landkarte verschwunden ist. Die Vergangenheit lebt in der Gegenwart weiter und ist der Schlüssel zum Verständnis der Situation. Darum hat Kidnapping zwei Teile, genannt „gestern“ und „heute“: Die Hälfte des Stückes ist ja eine Reise in die Vergangenheit.

Was hat die Journalistin Anna dort zu suchen? Was geht uns, die Deutschen, diese Geschichte an?

Alles. Deutschland ist, seiner eigenen Geschichte wegen, mit Israel und damit auch mit Palästina emotional und politisch verbunden. Die Korrespondentin der „Zeit“ in Israel, Gisela Dachs, hat diese Dreierbeziehung in einem exzellenten Buch beschrieben. Über den deutschen Standpunkt schreibt sie: „Der Holocaust, ohne den sich Israel nicht verstehen läßt, gehört der eigenen Geschichte an. Anders als die Palästinenser, die sich selbst als Opfer der Opfer begreifen, können sich die Deutschen nicht vom Leid der Juden in der Vergangenheit distanzieren. Dieses schwierige Dreieck macht das Bemühen um eine objektive Berichterstattung zu einer noch größeren Herausforderung – denn per Knopfdruck kann man sich in diesem Umfeld nicht befreien“.

In dem Vorwort zu diesem Buch schreibt Außenminister Joschka Fischer: „Für uns Deutsche geht es hier um Grundfragen unserer Politik und Ethik. Kein anderes außenpolitisches Thema rührt so tief an unser Selbstverständnis als Nation, ja an unsere Identität, wie dieses. Deutschland hat aufgrund der historischen Verantwortung für den Holocaust eine besondere Verpflichtung für das Existenzrecht und für die Sicherheit des Staates Israel. Diese Verpflichtung steht für uns nicht zur Disposition und kann nicht relativiert werden. Aus der Geschichte folgt für uns aber auch eine generelle Verpflichtung, für die Rechte anderer Völker, auch die der Palästinenser, einzutreten.“

Genau das ist meine Auffassung. Deswegen habe ich auch „Kidnapping“ geschrieben. Ich würde aber gern etwas hinzufügen: Ich bin nicht Deutsche; mein Vater war als Anti-Nazi in Berlin 1942-1944 aktiv; und ich wurde nach dem Krieg geboren. Das alles gibt mir eine etwas andere Sicht, als die des gewöhnlichen Deutschen. Und zwar hat meine Beziehung zum Judentum und zu Israel andere Motive als allein den Holocaust. Natürlich fühle ich, als Europäerin, eine tiefe Verantwortung für die wahnsinnigen Verbrechen des Nazismus. Diese abscheuliche Bewegung entstand in meiner westlich-christlich orientierten Gesellschaft: Wir alle sind betroffen und es gibt keinen Ausweg. Aber Israel interessiert mich halt auch aus anderen Gründen, und zwar seit meiner Kindheit. Als Land der Bibel (obwohl wir nicht besonders „fromm“ waren – es ist eher eine kulturelle Angelegenheit), als Land der ersten erfolgreichen sozialistischen Erfahrung (der Kibbuz, der jetzt allerdings seinen Zweck erfüllt hat und allmählich als Gemeinschaftsstruktur verschwindet), als Land des Widerstandes (in meiner Kindheit sah man in Israel die Verkörperung des Davids, der sich stets gegen Goliath verteidigen muss). Außerdem war die ganze Geschichte der Entstehung des Landes einfach abenteuerlich, und für ein abenteuergieriges Mädchen, war das faszinierend. Schließlich ist es so, dass ich in Ländern aufgewachsen bin, wo noch immer Juden lebten: Ein Jude war insofern nichts Besonderes, Kinder wie alle anderen. Die besonderen Juden, das waren diese großen Europäer, von der Aufklärung bis zum II. Weltkrieg: Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Rahel Varnhagen, Franz Kafka, Gustav Mahler, Karl Marx, Franz Werfel, Leon Blum, Edmund Husserl, Sigmund Freud, Lion Feuchtwanger, Albert Einstein, Stefan Zweig, Kurt Weill, Arnold Schönberg, Anna Seghers, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Pierre Mendes-France, um nur einige herauszugreifen! Ich empfand diese, meine Helden, eher als Europäer als als Juden. Oder vielleicht sollte man sagen, dass die Juden die besseren Europäer waren?

 

Eben sagten Sie, dass jeder weiß, wie der Frieden aussehen könnte. Wie denn?

Zwei Staaten, Räumung der Siedlungen, Teilung Jerusalems, kein oder nur begrenzter Rückkehrrecht. Das sind die Prinzipien von den Verhandlungen in Camp David und Taba (2000), von der „People's Voice“ (2002) und von der „Genfer Initiative“ (2003) unter anderen.

Jedoch befürwortet in Kidnapping die israelische Figur, Lev, einen gemeinsamen binationalen Staat. Warum?

In dieser Szene hat sich Lev gerade ziemlich heftig mit Sami (dem Palästinenser) auseinandergesetzt. Also widerspricht er Sami auch in diesem Punkt. Lev ist sowieso durcheinander und würde sich am nächsten Tag vielleicht anders äußern. Allerdings bezieht sich diese Szene auf ein wahres Ereignis. Ich nahm in Februar 2004 an einem Seminar in Givat Haviva teil, einer der Hauptsponsoren von „Kidnapping“. Dort sprachen uns zwei Direktoren des Zentrums an: Mohammad Darawsche (Araber) und Judith (Jüdin). Als ich sie fragte, welche Lösung sie denn persönlich für die Zukunft bevorzugten, stellte ich fassungslos fest, dass Mohammad die Zwei-Staaten-Lösung befürwortete, während Judith an einem einzigen Staat festhielt - und zwar mit den selben Argumenten wie Lev und Sami in dem Stück.

Es gibt natürlich in Israel eine Strömung, ziemlich weit links auf dem politischen Spektrum, die den binationalen Staat anstrebt. Ich respektiere diese Haltung, da sie für eine ausgesprochen demokratische, pluralistische und tolerante Gesellschaft steht. Lev steht also nicht allein da, falls er seine wahre Meinung gesagt hat.

 

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